"Ä g'hörige Schnupf" mit Rees

von Thomas Küng für 'Sonntagsblick' vom 28. Juli 1991

 

Der Muotathaler Rees Gwerder ist die lebende Schwyzerörgeli-Legende, der Traditionalist der Schweizer Volksmusik. Er spielt die Tänze, wie er sie vor Jahrzehnten gelernt hat. Übermorgen wird Gwerder 80 Jahre alt. Rechtzeitig zum Geburtstag erschien seine neue Platte „Ä g‘hörige Schnupf“.

Rees Gwerders Haus steht weit oben über dem Zugersee und ist nur durch eine steile Strasse voll tiefer Schlaglöcher zu erreichen. Bei Gewitter ein beinahe unüberwindliches Hindernis. Sein Briefkasten ist an einem kleinen Pfosten oben am Strassenrand befestigt. Die von Sturm, Regen und Sonne verwitterte Anschrift lautet schlicht „REES“. Gibt‘s einen „Ferdi National“, einen „Beni, Pirmin und Polo N.“, ist Rees sicher der „Rees National“. Der Muotathaler ist die lebende Schwyzerörgeli-Legende, der Traditionalist der Schweizer Volksmusik, der selbst den Traditionalisten nicht immer ganz geheuer ist.

Doch wenn eine Stubete oder ein Volksmusikabend mit Rees angesagt ist, reisen seine Fans von weit her an. Am 30. Juli feiert Rees seinen Achtzigsten. Zeit für eine besondere Premiere: Zum ersten Mal in seiner langen Karriere hat der Schwyzerörgeler mit dem fast unerschöpflichen Repertoire an Tänzen eine Platte bei sich zu Hause aufgenommen.

Dazu wollte der eigensinnige Innerschweizer aber erst überredet sein. Cyrill Schläpfer, selbst Musiker mit Jazz-Ausbildung am Schlagzeug und eifriger Schwyzerörgeli-Schüler von Rees, hatte die Geduld: „Das erste Mal, als ich Rees auf eine Plattenaufnahme ansprach, antwortete er mir nicht einmal. Nach mehrmaligem Insistieren - etwa ein halbes Jahr später - sagte er nur: „Da magsch du doch nüd g‘saage.“ Als er dann die gute Qualität von Probeaufnahmen hörte, war er endlich einverstanden. Ich brauchte insgesamt zwei Jahre, um ihn zu überzeugen.“

Schläpfer wollte keine Stubete-Platte im üblichen Sinn machen. Als „Stubete“ gilt bei Volksmusikern, was Jazzer als Jam-Session bezeichnen: Ad hoc zusammengewürfelte Formationen spielen allseits bekannte Klassiker oder improvisieren („improvisieren“ heisst bei den Volksmusikern „aus dem Stegreif spielen“). So wurde Gwerders Neueste zur Stubete-Platte im übertragenen Sinn, aufgenommen in der guten Stube von Rees - ein Werk, wie es in keinem Studio aufgenommen werden kann.

„Ich bin überzeugt, dass über all die Jahrzehnte in Gwerders Stube eine Atmosphäre entstanden ist, die mit seiner Musik gewachsen ist“, sagt Schläpfer. „Holzboden, Möbel, Raumgrösse haben jenen Einfluss auf den Klang, den sie haben müssen. Mir kommt dieser Raum vor wie ein Geigenkasten, der auch über Jahrzehnte mitschwingt und immer besser klingt.“

Um diese Stimmung möglichst direkt zu vermitteln, hat Schläpfer darauf verzichtet, „Fehler“ herauszufiltern. Da muss Gwerder unter einem halbunterdrückten Fluch zum zweiten Mal ansetzen, dort schlägt die Uhr dazwischen, und wenn das Album schon „Ä g‘hörige Schnupf“ heisst, ist auch dies auf dieser aussergewöhnliche Platte verewigt. „Rees, der zweite Schwyzerörgeler Ludi Hürlimann und der Bassist Peter Ott waren skeptisch, ob so eine ‚g‘hörigi Platte‘ entstehen könnte“, sagt Cyrill Schläpfer. „Erst als sie hörten, dass die Fehler beim Spielen herausgeschnitten werden können, dazu aber noch eine Ambiance entsteht, die nicht mit Studioaufnahmen vergleichbar ist, waren sie überzeugt“.

Einerseits ist Gwerder ein wortkarger Einzelgänger, andererseits ein genauer Beobachter, der seine Sprüche träf anbringt. Seine krumme Brissago, neben dem Schwyzerörgeli sein zweites Markenzeichen, nimmt er nur aus dem Mund, um sich einen gehörigen Berg Schnupftabak in die Nase zu ziehen. Sein Gesicht zeigt kaum eine Regung, wenn er auf seiner alten „Eichhorn“ spiel - ganz im Gegensatz zu jenen, die ihm zuhören.

An der Wand in der Stube seines Heimets hängen neben Heiligenbildern viele Kränze von Volksmusikanten-Wettspielen. Hier in der Stube lässt er jetzt hören, was er kann und was ihn berühmt gemacht hat: Seinen eigenen Musikstil mit der charakteristischen, knurrenden und „swingenden“ Bassbegleitung, die man aus jeder Volksmusiksendung sofort heraushört.

Schon als Fünfjähriger versuchte Rees heimlich auf Vaters Schwyzerörgeli dessen faszinierend virtuoses Fingerspiel nachzuahmen. Aber da sich der Vater „ds Örgele“ selbst beigebracht hatte, konnte Rees mit wenig didaktischer Hilfe rechnen. Rees Gwerder erinnert sich: „Vater sagte damals zu mir, was alle anderen auch sagten: ‚Chasch es sälber lehre - ich ha‘s au müesse‘.

Für diese Musik gab es weder Notenblätter noch technische Hilfsmittel wie Tonbandgeräte. Es galt das Gehör zu schulen. Melodien gingen von Müttern zu Töchtern, von Vätern zu Söhnen über. An den Nachkommen lag es, die Tänze aus dem Gedächtnis nachzuspielen und weiterzugeben - nachezieh! Gwerder: „Wenn der ‚Egg-Basch‘ oder der ‚Liener‘ zum Tanz aufgespielt haben, bin ich draussen am Fenster gesessen, habe mir die Melodie eingeprägt, bin dann sofort nach Hause geflitzt und habe mir den Tanz ‚i Grind inebige‘.“

Rees Gwerders Vorbilder waren die ersten Schwyzerörgeler in Muotathal: Anton Langenegger (nach seinem Heimet Egg „Egg-Basch“ genannt) Lienhart Betschart („dr Lieneler“), Alois Suter („dr Elisabetheler“) und natürlich sein Vater. Von ihnen übernahm Rees den archaisch anmutenden Ausdruck uralter Melodien. Darin ist deutlich der nordische Einschlag herauszuhören, den Musikwissenschafter gar den Kelten zuschreiben. Gwerders Vorbilder übertrugen als erste dieses Nordische ins Schwyzerörgeli-Spiel.

Mit 15 Jahren konnte Gwerder bereits über 100 Tänze auswendig. Über die Jahre hat er sich zur „wandelnden Musikbox“ entwickelt. Heute beherrscht er ein Repertoire von über 200 Tänzen. Als „Ländlermusik“ will Gwerder seine Musik nicht bezeichnet haben. Für ihn sind „Ländler“ gefällige Melodien, wie sie seit der Landi 1939 gross in Mode kamen. Erst in den sechziger Jahren schaffte es auch die bei Ländlerfreunden verpönte „Puuremusig“ aus dem Muotatal, auf Schallplatten zu ertönen - mit Rees Gwerder. So ist es auch Gwerders Verdienst, dass viele traditionelle Melodien, die er nachezoge het, heute auf Platten kommen und so mindestens dokumentiert sind.

Rees Gwerder hat seinen Teil an der Schweizer Musikvielfalt geleistet und mit „Ä g‘hörige Schnupf“ ein Juwel geschliffen. Jetzt wäre es an den Jüngeren, das archaisch Schräge in unserer traditionellen Musik zu pflegen - äbe nachez‘zieh.
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