Ich habe noch so viele Melodien im Kopf

von Philipp Fink für 'Schweizer Illustrierte' vom Juli 1996

 

Volksmusik-König Rees Gwerder feierte im Altersheim seinen 85. Geburtstag. Früher füllte er mit seinen Tanzmelodien auf dem Schwyzerörgeli Säle - heute spielt er nur noch für sich.

Das Zimmer Nummer eins im Altersheim Hofmatt in Arth SZ ist voll mit Nippes, Urkunden, Plattenumschlägen. Alte Fotos und Zeitungsausschnitte zeigen Rees Gwerder, 85, die Nummer eins der Schweizer Volksmusik, mit seinem berühmten Schwyzerörgeli. Hier lebt der urchige Innerschweizer seit über einem Jahr und erholt sich von den Strapazen der vergangenen Tage. „Die vielen Besucher, das Fernsehen und der ganze Rummel um meinen 85. Geburtstag waren mir fast ein bisschen zuviel“, sagt Gwerder und ruht, wie jeden Mittag nach dem Essen, auf seinen riesigen, rotweiss karierten Kissen. „Ich höckle fast den ganzen Tag im Zimmer und rauche“, sagt Rees, der an jedem möglichen Ort in seinem Zimmer ein paar Schachteln mit seinen unvermeidlichen „Krummen“ liegen hat. Sogar in der Medikamentenschachtel türmen sich, neben einer harmlosen Flasche Stärkungsmittel mit Ginseng, etwa dreissig Zigarrenschachteln. „Medikamente brauche ich keine“, stellt Rees trocken fest und verrät sein Wundermittel für ein hohes Alter: „Wenn ich aufwache, nehme ich zuerst einen Schluck „Chrüter“.

Nach dem Frühstück sitzt er dann auf seinem Sofa und pafft bis zum Mittagessen vor sich hin. „Graucht muess sy“, ist seine Devise. Von Ergotherapie oder geselligen Anlässen mit anderen Heimbewohnern hält er nicht viel. Rees schüttelt den Kopf: „Das sind alles ‚stuuri Sieche‘. Die passen nicht zu mir. Oder ich nicht zu ihnen.“

Eigensinnig ist er schon seit Kindsbeinen. Mit fünf begann Rees Schwyzerörgeli zu spielen, Noten lesen hat er nie gelernt. „Mein Vater sagte immer: ‚Chasch es sälber lehre, ich has au müesse‘“, erinnert sich Rees an den Anfang seiner Musikerkarriere zurück. So brachte er sich selber das Schwyzerörgelispielen bei und beherrschte in der Primarschule bereits ein Repertoire von über hundert Tänzen. „Bis vor kurzem konnte ich noch über 300 Tänze aus dem Stegreif spielen, heute sind es noch ein Dutzend“, hadert Rees ein wenig mit seinem Schicksal. Wehmütig nimmt er sein hundertjähriges Schwyzerörgeli aus dem Koffer und beginnt mit versteinerter Miene zu spielen. Leben kommt in seine Finger, unerwartet schnell gleiten sie von einem Knopf zum andern. Greift er einmal daneben, regt er sich auf. „Die Finger wollen einfach nicht mehr“, ärgert er sich. Es schmerzt ihn, dass seine Finger die Melodien nicht mehr umsetzen können, die er im Kopf noch immer hört. Ab zu spielt er zusammen mit dem 37jährigen Musikproduzenten Cyrill Schläpfer, der zu seinem 85. Geburtstag am 30. Juli die CD „Tänz usem Geisshimmel“ mit den zwanzig beliebtesten Tänzen von Rees Gwerder herausgab. „Das Titelbild dieser Platte ist ein Foto, das Wysel Gyr vor dreissig Jahren von mir und Ludi Hürlimann gemacht hat“, freut sich Rees Gwerder. „Wir sind alte Wegbegleiter und mögen uns sehr“.

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