Spiel mir den Blues vom Muotatal
von Christian Seiler für 'Die Weltwoche' Nr. 31 5. August 1993
Mit Respekt” widmet Cyrill Schläpfer seinen Film “Ur-Musig” “den traditionellen Musikern, den naturverbundenen Berglern und den sturen, querstehenden Grinden aus dem Appenzell, dem Muotatal und der Innerschweiz”. Damit hat er, was in diesem Film auf der Leinwand passiert, schon festgeschrieben: Es wird gejodelt und gesungen, getanzt und gespielt, es wird auf die Alp aufgezogen und das Vieh in den Stall getrieben, und zwischendurch packt irgendwer das Schwyzerörgeli aus dem Kasten, raucht sich eine Krumme an und spielt auf. Heissa. Ja: Volksmusik, Abteilung Schweiz. Warum klingt allein das Wort so schrecklich? Was schmeckt da so bratwurstverkohlt auf dem Gaumen? Es ist die alte Gleichung, dass die Folklore von daheim sowieso voll Schlagerdümmlichkeit und Spiesserfröhlichkeit daherkommt, ganz in Plastik wie die Blumen der TV-Stammtisch-Dekoration; dass mit dem M-ta-ta der Blasmusik das Bierzelt automatisch mitgeliefert wird samt Kopfweh zum unvermeidlichen Bierrausch. Brrrr, allein der Gedanke ist jedem aufmerksamen Hörer unerträglich. Wenn er “Volksmusik” hört, fällt ihm ein: Wegschauen. Weghören. Oder wie der Wiener sagt: Nicht einmal ignorieren. Es ist überraschend, wie hartnäckig “Ur-Musig” mit diesen (vor allem vom Fernsehen verschuldeten) Vorurteilen aufräumt. “Ur-Musig” erklärt nichts, verklärt nichts, idealisiert nichts. “Ur-Musig” zeigt. Zeigt. Zeigt. Zeigt. Fast zwei Stunden lang zeigt der Film. Menschen und Melodien und Landschaften und Rhythmen; er zerlegt den komplexen Begriff “Volksmusik” in seine Bestandteile und setzt die Komponenten in allen denkbaren Kombinationen zusammen; nicht nur Menschen singen, auch Berghänge; das Klingen der Glocken ist Musik, auch wenn keine Menschenhände den Takt schlagen. Ein Appenzeller Chlausenschuppel zäuerlet am alten Silvester von Urnäsch. Rees Gwerder tritt im Zürcher “Rietberg” auf. Die Mosibuebä spielen an der Chilbi zu Arth. Von Urner, Nidwaldner und Schwyzer Alpwirtschaften schicken die Sennen Betrufe ins Tal. Im Appenzell formiert sich ad hoc eine Kapelle und spielt Streichmusik. Die weitgereisten Cracks der Volksmusik unterrichten daheim ihre Kinder, Kühe werden in den Stall gelockt. Der Schnee liegt in den Schattenbuchten der Südhänge. Wolken ziehen über die Mythen. Gipfel ragen aus der Hochnebeldecke wie die Köpfe der Musikanten aus dem Qualm der Wirtschaft. Nein, “Ur-Musig” hat keine Handlung. Kein Held führt uns in einer durchstrukturierten Story in die Tiefen der Musik. Die Musik ist. Ihr Reichtum ist das Thema dieses Films und hat dessen Hauptdarsteller unter Vertrag. Kauzige Köpfe, Vollbärte, Zahnlücken. Urchige Schweizer, wie man sie so liebevoll wie verächtlich nennt; Aborigines der nächsten Nachbarschaft, deren Refugien oft nur 30, 40 Kilometer von den urbanen Zentren entfernt sind und trotzdem weiter weg als New York oder Paris oder Toronto. Dieser Fim hat sie aufgespürt, um sie zu verehren. Die Kamera schaut hin, aber sie diffamiert kein schlechtes Gebiss und keinen Charakterschädel. Sie friert keine anonyme gute, alte Zeit. “S'isch, wie's isch”, sagt Rees Gwerder am Schluss des Films, das ist Programm: “Ur-Musig” sammelt die Töne der handelnden Landschaften und Personen. Die Töne dürfen falsch sein, nein, ungewohnt klingen. “Ur-Musig” dokumentiert die Schweizer Volksmusik vor deren Überführung in die alpine Einheitsmelodie (Zentrum Oberkrain), als sämtliche Dissonanzen zugunsten eines fröhlichen Pauschal-Dur ausgeräumt wurden. “Ur-Musig” wählt aus, hört zu. Neugier der Dokumentation, Exotik des Kulturfilms Der Film besitzt die Neugier der Dokumentation, die Exotik des Kulturfilms, die Sorgfältigkeit der wissenschaftlichen Arbeit, verzichtet aber auf Etiketten und Vollständigkeiten. “Ur-Musig” nennt sich Musikfilm, basta. Die Musik ist dem Bild gleichgestellt, kein Wort wird aus dem Off gesprochen, keine Szene per Untertitel positioniert. So gelingt, dass - wie Regisseur Cyrill Schläpfer sagt - “auf Gefühlsebene der urtümliche Gehalt der Schweizer Volksmusik visuell und akustisch erlebbar gemacht” wird. Darin unterscheidet sich “Ur-Musig” etwa von den trocken-wissenschaftlichen Muotatal-Filmen des Musikethnologen Hugo Zemp oder dem verkünstelten Appenzell-Film “Die Insel” von Martin Schaub. “Ur-Musig” strotzt vor Sinnlichkeit und Leidenschaft. Wir hören diese Ur-Musik, weil da einer ist, der sie uns um jeden Preis vorspielen will. Cyrill Schläpfer ist kein Unbekannter. Er gab auf seinem Label “CSR Records” bereits bahnbrechende Volksmusik-Produktionen heraus (unter anderem mit Rees Gwerder, Walter Alder und Appenzeller Zäuerli). Was Schläpfer auszeichnete (und ihn in der Szene immer wieder anecken liess), war sein unverkrampfter Umgang mit einer Kultur, in die er sich als ehemaliger Rockschlagzeuger selbst erst einleben musste. Doch gerade dieses Einleben schuf die Voraussetzung für Schläpfers unverstellten Blick, seine Sensibilität, seinen Respekt, die Markenzeichen seiner Produktionen. Schläpfer suchte nie das Lüpfige, das Anpasserische der Schweizer Volksmusik. Blitzblankes Volkstümliches mit dem Schweizerkreuz in jedem zweiten Takt interessierte ihn nicht. Was er hören wollte, war der “Blues” die “melancholische Grundstimmung” einer Musik, die “bekanntlich auf erstes Hören hin einen heitere, unbeschwerten Charakter” ausstrahlt und erst “bei einer intensiveren Auseinandersetzung” (Schläpfer) einen Blick auf ihre seelischen Abgründe offenbart. Schläpfer lebte sich, selbst Appenzeller Querschädel, mit solcher Leidenschaft in den helvetischen Blues hinein, dass er Teil davon wurde. Drehscheibe, Transformator, Aggregat. “Ur-Musig” ist das beeindruckende Zeugnis dieser Lust. Schläpfer bring uns bei, dass Volksmusik die Funktion einer Mundart hat, in der sich ausdrücken lässt, was sich der Hochsprache gegen das Ausgesprochen-Werden sträubt; dass ein Jodel, ein paar Takte auf dem Schwyzerörgeli oder der Geige Geschichten erzählen können, für die es in der Hochkultur der gesprochenen Sprache keine Worte gibt. Die Musikstücke, auf denen dieser Film sich entfaltet, sind wohlausgewählt. Sie erschliessen dem Popohr und dem aufgeschlossenen Klassiker die fremde, nämlich die eigene Volksmusik (die Tonspur von “Ur-Musig” ist auf CD erhältlich. CSR Records 2 CD 92512). Das ist ein immenses Verdienst. Schläpfer erzählt also mit den richtigen Personen die richtigen Geschichten. Er hat sie langsam und ohne Hast montiert. Sein Film hat Platz für Assoziationen und Ausflüge. Er führt behutsam in eine nahe, fremde Welt ein, bedacht darauf, keine gefährdeten Biotope zu zerstören. “Beträchtliche Mittel” gab Cyrill Schläpfer für “Ur-Musig” aus und schloss sich selbst und seine Arbeit aus der Aufwands/Ertrags-Rechnung aus. Er widerstand diversen kommerziellen Verlockungen, um die Bewohner der von ihm aufgespürten Reservate nicht zu verstören, um zu garantieren, dass keine seltene Flora kaputtgetrampelt wird. Wichtiger als das Geschäft war der Respekt vor den querstehenden Grinden. Heissa. |