Der Volksmusikarchäologe

von Alois Feusi für 'NZZ' 26. März 1993

 

Der Produzent Cyrill Schläpfer befreit die Folklore vom Kitsch

 

Der Rees Gwerder, sagt Cyrill Schläpfer, und seine Stimme nimmt einen fast andächtigen Klang an - der Rees also sei einer der wenigen Vollblutmusiker, die er kenne, einer, der eins sei mit dem Instrument und der Musik. „Wichtig ist ihm nicht der Erfolg, sondern nur die Musik“. Solche Kompromisslosigkeit imponiert einem Mann wie Schläpfer, der mit seiner Ausbildung zum Schlagzeuger und Produzenten an der renommierten Berklee School of Jazz in Boston und mehreren Jahren als Produzent in den Studios einer grossen Schallplattenfirma lange genug im Geschäft ist, um zu wissen, dass sehr viele Musiker bei aller Liebe zur Kunst doch vor allem dem kommerziellen Erfolg hinterherjagen.

 

Über Musikfilm zur Volksmusik

Kompromisslos ist indes auch die Art, wie der 34jährige Luzerner Schläpfer die Konsequenzen aus seinem Überdruss an der Musikindustrie gezogen hat: 1989 gab er seine sichere Stelle beim Schallplattenriesen EMI auf, um fortan in seiner Zürcher Wohnung ein eigenes Label mit dem hintersinnigen Namen „S(ch)wing“ zu betreiben und sich der Arbeit an „UR-Musig“ zu widmen, einem Dokumentarfilm über die urtümliche Innerschweizer und Appenzeller Volksmusik, über die Menschen, die sie machen und über die Landschaften, in denen sie entstanden ist. 16 Stunden Material hat Schläpfer in fast drei Jahren abgedreht und seit einem Jahr ist er daran, das Werk, das im Kino und Fernsehen gezeigt werden soll, auf 60 Minuten zusammenzuschneiden. Inzwischen ist er bei zwei Stunden angelangt, und er hofft, dass es ihm vielleicht doch noch gelingt, die Verantwortlichen des Schweizer Fernsehens davon zu überzeugen, dass der Film auch in dieser Länge gezeigt werden kann.

Über seinen Musikdokumentarfilm hat der Rock- und Jazz-Schlagzeuger Schläpfer zur urtümlichen Schweizer Folklore gefunden. Und zur Schwyzerörgelimusik des 82jährigen Rees Gwerder aus Arth im Kanton Schwyz. „So ein Örgeli nimmt man, im Gegensatz zu einem Schlagzeug, das in einem Übungsraum aufgebaut ist, einfach aus dem Koffer, man setzt sich hin, macht Musik und ist selig“, schwärmt er. Überhaupt schätze er das Positive, die Zuversicht und Heiterkeit, die die Volksmusik ausstrahle. Seit vier Jahren nimmt Schläpfer bei Gwerder Stunden - „wenn man das überhaupt so nennen kann. Der Rees kennt keine Noten; er spielt eine Melodie, und ich muss nach Gehör mitspielen, ganz wie in einer Jazz- oder Bluessession.“ Gwerder selbst hatte sich als fünfjähriger Bub das Orgeln nach der gleichen Methode beigebracht, hatte zugehört, wenn die Erwachsenen über Generationen überlieferte Masolker, Walzer, Schottisch, Jüüzli und Stümpeli spielten, sich die Melodien eigeprägt und aus dem Gedächtnis nachgespielt.

 

Weltmusik und Alpenblues

Der knorrige Schwyzerörgeler vom Gängigerberg ob Arth und sein um ein halbes Jahrhundert jüngerer Schüler verstanden sich so gut, dass es Schläpfer schliesslich gelang, Gwerder zu Plattenaufnahmen zu überreden. Entstanden ist „Ä g'hörige Schnupf“ (CSR/Schwing 91672), eine in Gwerders Arther Bauernstube eingespielte Compact Disc, die nicht das geringste gemeinsam hat mit den bluemetrögleten, Echo- und Hall-verbrämten alpenländischen Volksschlagern, die derzeit zur besten Sendezeit über alle Fernsehkanäle flimmern, eine Schallplatte, der das Knarren von Holzbohlen, das Schlagen der Stubenuhr oder auch ein unterdrückter Fluch nach einem misslungenen Lauf die authentische Atmosphäre einer Stubete verleihen und die von der Kritik euphorisch als reine Weltmusik und purer Alpenblues bejubelt wurde.

Seither hat Schläpfer eine weitere Gwerder-Platte produziert („Urchig wie duezmal“, CSR 91452), mit dem Appenzeller Hackbrettmusiker Walter Alder eine CD mit volkstümlichen und klassischen Melodien („Am Appenzeller Hackbrett“, CSR 91502) aufgenommen und - Schläpfers sperrigste und aussergewöhnlichste Produktion - am alten Sylvester in Urnäsch bei klirrender Kälte eine Reihe von Zäuerli, Naturjodel aus dem Appenzellerland, im Freien digital aufgezeichnet („Am alte Silveschter z'Urnäsch“, CSR 91662). Auch diese drei Produktionen sorgten - nicht nur in der Schweiz - für viel Aufsehen.

 

Nicht allein auf Volksmusik eingestellt

Bei aller Liebe zur urtümlichen Volksmusik mag Schläpfer seine Arbeit nicht ausschliesslich auf die Folklore reduzieren. „Schliesslich habe ich jahrelang in Rockbands gespielt, und ich höre nach wie vor Rock und Jazz“, sagt er. Ausserdem ist die Popmusik mit ihren eingängigen Melodien und mitsingbaren Texten eine Art neuzeitlicher Volksmusik. Deshalb sieht er im Sampler „Best of Swiss Rock Ballads“ (CSR 91472), auf dem er kürzlich 16 der erfolgreichsten Schweizer Rock-Balladen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten zusammengestellt hat, keinen Bruch in seinem Verlagsprogramm. Im Gegenteil; mehrere der Songs sind längst vergriffene Raritäten, die für die CD gleichsam neu ausgegraben worden sind.

Auch Schläpfers gegenwärtiges Projekt, eine Platte mit der Berner Schauspielerin und Jodlerin Christine Lauterburg, sprengt die herkömmlichen Grenzen der Volksmusik. Die beiden experimentieren mit traditionellen und neukomponierten Melodien, die zum Teil im Freien, auf Alpen oder am Fuss von echowerfenden Felswänden aufgenommen worden sind, und bearbeiten sie mit modernen Sampling-Techniken. Seit über drei Jahren arbeiten Lauterburg und Schläpfer an dem Album, das im kommenden August endlich fertig sein soll. Sein Name: “Echo der Zeit“.

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