Rees Gwerder

von Thomas Küng für 'Du' 7/1993

 

Der Föhn rüttelt an Cyrills 20jährigem, frisch vorgeführtem Fiat 500 L. Im himmelblauen Cinquecento fahren wir zu Rees Gwerder ins Altersheim mitten in Arth neben Kirche und Kinderspielwiese. Rees wohnt, wenn man ins Haus kommt, gleich links, gegenüber den Toiletten. Als wir in Rees' Zimmer treten, laufen gerade Rolltitel über den Bildschirm. Was hat er gesehen? «Über die verdammte huere Asylbewerber», sagt er laut, als ob man ihm schon widersprochen hätte. Rees zeigt gerne seine harte Schale - vor allem bei Erstbegegnungen. Dass er nicht freundlich wirkt, ist ihm wurst, wie ihm alles wurst ist, was die Leute über ihn reden. Rees knipst den Fernseher aus, erhebt sich gekrümmt und alterssteif, reicht eher nachlässig-kraftlos Mittel- und Zeigefinger zum Händedruck. Herr Gwerder? Rees! Nur mit Steuerbeamten ist man per Sie. Abgeschoben ins Altersheim wirkt er nicht, hat nicht weniger Besuch von Schülern als auf seinem Heimet auf dem Gängigerberg am Ende geteerter Strassen hoch über dem Zugersee - und doch hat ihn der Alpabzug geschmerzt.

Rees spricht nicht viel, Cyrill auch nicht. Der Luzerner packt sein Schwyzerörgeli aus, setzt sich in respektvollem Abstand seinem Meister gegenüber. Als Kind erst Blockflötler, dann angefressener Trommler, Hackbrettler, Schlagzeuger in verschiedenen Rock-Bands, schliesslich Absolvent der Berklee School of Jazz in Boston - Cyrill Schläpfer hat immer gesagt bekommen, wie etwas zu spielen ist, meist auch noch warum gerade so, und keinesfalls anders. Zu Rees ging er 1989, weil ihm dessen Musik gefiel, noch mehr sein Stil.

Rees spricht nicht über seine Musik, erklärt nicht, wie's gemacht wird. Hinschauen, nachmachen; hinhören, nachspielen. So hat er's gemacht. So haben's alle gemacht. Noten? Was für Noten? Töne! Takt!

«Zerscht rauched mer no e Pfife», sagt Rees und erzählt zufrieden, dass er Tabak von einem geschenkt erhielt, der sich seine Zigaretten selber drehen wollte - nicht lange, zu ungeschickt. Er schlurft in kurzen Schritten drei-, viermal zum Tisch, holt Tabak, holt Aschenbecher und holt schliesslich auch die Scnupftabakdose. Er hat Zeit. Hat er schon immer gehabt. Man hat sich, sagt er, früher mehr Zeit gegeben, bei der Arbeit und beim Musizieren. Manchmal sei einem draussen beim Heuen eine Melodie in den Sinn gekommen: sofort ins Haus, um's auf dem Orgell auszuprobieren. Ginge das heute noch? Endlich klimpert Rees den Schlüssel hervor und holt den Koffer mit dem 100jährigen Eichhorn-Örgeli aus dem Kleiderschrank. Sauber eingemittet zwischen den Kofferschnallen der Kleber mit weissem Kreuz auf rotem Grund, in schwarzer Schrift quer darüber: «Pro Landesverteidigung». Rees, geboren 30. Juli 1911, stand während des Zweiten Weltkriegs nicht an der Grenze. Wegen einer als Kind erlittenen Kopfhautverbrennung war ihm das Helmtragen unmöglich. Keine Wehmut. «Das verreckt huere Hebt! Senkt! Hebt! Senkt!» war nicht seine «Welle», sagt er. Liegestützen mochte Rees schon damals nicht. Dafür lernte der Daheimgebliebene seine Frau kennen. Draussen stürmt's lauter. Was ist das für ein Wind, will Cyrill wissen. «Das isch dr Feehn.» Schon, aber ein komischer Föhn, fasst Cyrill nach, doch Rees hat den ersten Tanz ohne Ankündigung begonnen, Cyrill spielt nach kurzem Zögern mit. Fehlt nur noch der Bass zum üblichen Trio.

«Weisch, wie dä Tanz heisst?» fragt Rees zwei Minuten später listig. Cyrill hat keine Ahnung. «Ich äbe au nöd. Dä Saucheib.» Nach zwei Pfeifenzügen beginnt Cyrill den nächsten Tanz, Rees steigt ein. Ausdruckslos, ökonomisch in den Bewegungen. Nur die spitzen Finger bewegen sich, die Pfeife wippt unmerklich mit. Aus dem Örgeli perlt Frische, Freude und viel Zug. Wer ganze Nächte durchspielt für ein paar Franken und Verpflegung, überdies auch nicht mehr jünger wird, der muss einteilen. Rees ist auch darin ein Meister. Kraft und Energie - da liegt der Unterschied. Rees spielt mit mehr Energie, das braucht weniger Kraft. «Grad ohni Fähler chasch en immer no nöd», sagt Rees und blickt enttäuscht auf die bereits erloschene Pfeife. Hundware, kein Tabak. So schlurft er wieder zum überladenen Tisch, auf dem sich neben ein paar Rotweinflaschen ein Stapel Brissago-Stumpen auftürmt. Rees' legendäre «Krumme», die auch schon Fernsehverantwortliche ans Limit trieben: Bei einem Auftritt wollte man ihm die Stumpen ausreden. «Ohni Rauch kei Musig», stellte Rees schon während der Proben klar. Man versuchte es mit Güte und Logik: Der Rauch löse womöglich Feueralarm und die Sprinkleranlage aus. Er müsse unbedingt für die Dauer des kurzen Auftritts auf die Brissago verzichten. «Ohni Rauch kei Musig!» Die Alarmanlage wurde ausgeschaltet, ein zusätzlicher Feuerpolizist stand in den Kulissen, die Stumpenglut gut unter Kontrolle.

Ob Rees Gwerder ein Exot ist oder nicht, hängt lediglich vom Standpunkt des Betrachters ab, denn seine Biografie ist unspektakulär wie viele: geboren und aufgewachsen im Bisistal/Muotatal, Bergbauerndasein, verheiratet, verwitwet, drei Töchter. Besonders an ihm ist vielleicht nicht einmal seine Musikalität. Seine Schwester hatte das bessere Musikgehör als er, erzählt Rees, aber einmal aus der Schule, fand sie neben der Arbeit keine Zeit fürs Musizieren mehr. Erst das machte Rees heute zu einer wichtigen Figur: Er pflegte sein Musikgehör über Jahrzehnte und hielt mit letztlich kostbarer Sturheit an dem fest, was richtig ist. An ihm gingen alle Moden vorbei, er nahm sie kaum wahr. Das Echte so es das gibt - finden bei Rees all jene, die weiterziehen wollen, was den Vorvätern ins Tanzbein gefahren ist, aber auch jene, die die Weltreise hinter sich haben und den weitgeschweiften Blick erstmals in heimische Täler richten.

Rees weiss, was falsch und richtig ist, vor allem, was «eso» ist. So, wie er Mazurken, Walzer, Schottisch und Polka spielt, ist richtig. Die Frage nach dem Warum verbietet sich. Der Vater hat's so gespielt, die Grossmutter auch. Punkt. So hat er Moll-Elemente - sagt der Musikfachmann - nicht «herausgedurt», das Bluesige im Swing nicht neuer Fröhlichkeit geopfert. Cyrill zieht an der Pfeife und ärgert sich über die Kühe ohne Hörner, die man immer häufiger sieht. «Die Puure, wo das mached dene sött me de Seckel abhaue», sagt Rees. Kühe haben Hörner. Das «isch eso». Wer den Jungtieren die knospenden Hörnerstummel abmurkst, weil Kühe ohne Hörner praktischer zu halten sind, dem fehlt der Respekt vor dem was ist. Unverrückbar.

«Massolker wänd's hüt fascht nüme», klagt Rees. Auch die 3/4-taktigen Mazurken sind aus der Mode gekommen. Dabei hat er so schöne in seinem Repertoire und musste früher in jedem «Rast» mindestens einen «Massolker» haben. Früher. Immer neun Stücke in einem Rast, und dann hat der Tanzmeister, der den Abend organisierte, in der Pause von den Tanzenden je 30 Rappen eingesammelt. Damit's auch sicher ein wenig Umsatz gab, brachte er jeweils ein paar junge Frauen mit, die jeder Aufforderung zum Tanz folgen mussten.

An seinen ersten Auftritt kann sich Rees noch gut erinnern. Fasnacht war's, am «Güdel-Montag» anno 1930. In Schwyz im «Alperöösli» für eine Gage von 18 Franken. Lampenfieber hatte er damals nicht, hat er nie. Dass der Laden voll war, beeindruckte ihn wenig. Und die Konzerte im Zürcher Hallenstadion kürzlich vor tausenden von Zuschauern? «Schiisechalt» war's. Gross? «Grad gross gnueg». Karriere? 1962 veröffentlichte Rees sene erste Platte. Da war er schon gut 50. Jetzt wird der noch weltberühmt, hiess es im Tal giftig, der müsse ja nicht meinen, er sei etwas Besseres. Ein gutes Dutzend weiterer Platten folgten, die letzten beiden nahm Cyrill Schläpfer bei Rees zu Hause auf Seither ist Rees wieder in der Presse. Was die nur immer mit dem Rees haben. Am liebsten spielt er noch immer an Hochzeiten und Geburtstagsfesten, da kennt man einander, geht's lustiger zu. Auch dies ist dann «wie duezmal», wo die Feste auf irgendeinem Bauernhof stiegen. Zwischen Mitternacht und Dämmerung wurde Käse, Brot und Wein aufgetischt. Wer dafür mehr als 80 Rappen verlangte, wurde fortan gemieden. Ein Stümpeli ist fertig. Die bedrohlich lange Asche des Krummen schafft's nicht mehr bis zum Aschenbecher und fällt auf due Hose. «Süücheib». Rees verstreicht die Asche mehr, als er sie wegklopft. Der Wind pfeift, dass sich das Gras flachduckt. «D huere Dimmerfeehn» hat Nachwehen, sag Rees. Wenn der nachgeben muss, kann' nochmals hinunterschneien. Ende April.

Auf dem Fernseher steht neben eine Kerze, die noch niemand angezündet hat, das kleine in Holz gerahmte Schwarzweiss-Bild seiner Frau Josefina. Sie hatte ein Heimet, damals, und als ihr erster Mann starb half ihr Neffe aus. Doch der wurde währen des Krieges eingezogen, erzählt Rees, also sprang er ein. Und dann wurden Fäden gesponnen. Mittlerweile sind die Fäden zerrissen, sagt er wehmütig. Aber er hat doch drei Töchter. «Und drü Schwigersöhn. Mehr gibt's dazu nicht zu sagen. Der Kontakt ist eher distanziert.

An der Wand über dem Bett hängt ein Zertifikat des «Swiss Sportmen's Club of Tacoma, Musikfest 1976». Rees war in Amerika. Als er mit Bauern aufhörte, hatte er einen Spleen, wie er sagt, und wollte einfach dahin. Zweimal flog er hinüber. Das erste Mal hat's ihm gefallen, weil er anschauen konnte, was «üserein» interessierte: «Oppe e schöni Farm mit ere Tschuppele Chüe, und öppe en rächte Schwyzer druf» Er begegnete Muotatalern, die 1920/22 ausgewandert waren und die er mit langem Grübeln noch kannte. Die Wirtschaft lief schlecht damals. Was wollte man mit vier Kindern auf einem Heimet und alle werden erwachsen? Weg wollte keiner. Aber ein Neuanfang in Amerika bot sich als möglicher Ausweg an. Rees dachte nie ans Auswandern. Er hätte überdies das nötige Geld - etwa 2000 Franken - nicht zusammengebracht.

Nach dem «Sagefiäler», grinst Rees. In diesem Stück wird ständig gestossen und gezogen, gesägt eben, auch eine Spezialität von Rees. Sägen will gelernt sein. Drum mögen die Jungen seine Tänze nicht, sagt Rees. Wenn er sägt, scheint das Örgeli bewegungslos auf seinem Bein zu ruhen. Ökonomisch. Die Jungen setzen eher auf Virtuosität. Das mag Rees nicht. Alles «Jufler», wollten fertig sein, bevor sie begonnen hätten. Rees hält nichts von viel Tempo und Tönen in Massen. Seine Qualität ist der «Takt», wie man sagt, der «Groove»; das, was man nicht beschreiben kann, nur spürt, wenn's da ist, und vermisst, wenn's fehlt. Rees hat den «Takt». Cyrill hat den eben gespielten Walzer noch nicht gekannt. Rees strahlt - verhalten. «Das isch en nüüe.» Und wenn er einen neuen hört, der ihm gefällt, findet er keine Ruhe, bis er ihn kann. Wie vor 75 Jahren, als er auf dem Örgeli des Vaters heimlich zu spielen begann. Mit ihm hat Rees nie zusammengespielt. Wie auch - es hatte ja nur ein Örgeli für beide. Und als Rees besser spielte als sein Vater? Da schwieg das Familienoberhaupt und hatte keine Angst mehr, sein Ältester trage dem Instrument zu wenig Sorge. Rees spielt noch immer ein paar Tänze seines Vaters. Wie gross sein Repertoire ist, weiss Cyrill besser, schätzt es auf etwa 250 Kompositionen. Welche von wem sind, weiss man nicht genau. Das interessiert vor allem die Urheberrechtsgesellschaft.

Die Unterrichtsstunde vergeht schnell, wird weit überzogen. Zum gleichen Tarif. Als wir aus Rees' Zimmer kommen, steht dicht bei der Tür ein alter Mann mit leerer Bierflasche in der verbundenen Hand. «Scho fertig? Schön gsi.» Er verabschiedet uns etwas traurig, freut sich schon auf den nächsten Schüler.

Wir gehen in die Beiz zu Kalbsbratwurst mit Rösti, dazu Rotwein mit Elmer Citro gemischt. Der Dimmerföhn verschlägt einem fast den Atem. Dimmerföhn sei, wenn's trotz Föhn bewölkt ist. Und wenn der mal weichen muss ... Anderntags sieht man in den Zeitungen das vom Föhn zerfetzte Ausstellungszelt in Schwyz. Weichen wird er erst in zwei Tagen. Keine Angst, aber Respekt vor dem, was «eso isch».

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